Anwender haben Macht. Wenn sie ein Produkt verweigern können selbst milliardenschwere Werbebugets nichts dagegen ausrichten. Das bekannteste Beispiel aus der IT-Branche hierfür dürfte Windows Vista sein. Umgekehrt beeinflussten Anwender aber auch die Richtung des Produkts. Das gilt umso mehr für community-zentrierte Projekte, wie sie in der Open-Source-Branche üblich sind.
Die ehemalige Geschäftsführerin der Piraten Marina Weisband wurde auf SPIEGEL ONLINE zitiert mit einer Aussage über die verbliebenen Mitglieder der Piratenpartei. Ihrer Meinung nach dominieren – nach der Vertreibung der progressiven Fraktion – jene, die das Internet in den Grenzen der 90er wollen.
Wenn man den Fokus nicht so eng fasst und auf Betriebssysteme ausweitet, kann man diese Aussage auf weite Teile der Open Source-Bewegung ausdehnen. Diese Bewegung versteht sich in Teilen schließlich auch politisch und hatte sich besonders stark für die Piraten gemacht. Die Open Source Gemeinschaft hatte immer einen tendenziell auf- oder nachholenden Charakter. Aufgrund beschränkter Ressourcen musste man lange Zeit in vielen Bereichen den großen IT-Konzernen hinterher arbeiten. Rund um die Zeit, als das verfemte Windows Vista erschien, hatte man diesen Rückstand aber aufgearbeitet und begann eigene Akzente zu setzen. Angetrieben von Ubuntu, das auf Nutzbarkeit auf dem Desktop drang und durch avantgardistische Projekte wie KDE 4 begann man eine eigene Vision des Desktops zu entwickeln. Die letzten Produkte dieser progressiven Entwicklung waren GNOME 3 und mit Abstrichen Unity. Dahinter steckten konkurrierende Ideen von der Zukunft der Computernutzung, teilweise auch über die Grenze des Desktop-PC’s hinweg. Gemeinsam war ihnen, dass sie die Grenzen des klassischen Desktops überwinden wollten.
Gegen diese progressive Entwicklung formierte sich in der gesamten Anwenderschaft Widerstand. Galt dieser Widerstand anfangs noch der unausgegorenen Entwicklung bei KDE, dehnte er sich bald auf jede Neuentwicklung aus. Seit einigen Jahren wird von weiten Teilen der aktiven (d.h. im Internet kommentierenden) Anwenderschaft jede Neuentwicklung kritisch beäugt. Neue Projekte haben seitdem in der Regel einen reaktionären Ansatz. Xfce, MATE und Cinnamon sind nichts weiter als der Versuch das Bedienmodell des Jahres 2000 in die Gegenwart zu retten.
Diese Auseinandersetzung tobt aber bei weitem nicht nur auf der (Desktop-)Oberfläche, sondern die – teilweise absurde – Auseinandersetzung um systemd zeigte die Grundtendenzen der Kornfrontion deutlich. Auf der einen Seite jene, die eine Weiterentwicklung wollen und dafür bereit sind den Bruch mit bestehenden Strukturen riskieren, auf der anderen Seite jene, die den status quo zum Idealzustand erklären. Anstatt sich mit den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu befassen, diskutiert man lieber die Frage ob eine Distribution “schon” ihren 32bit-Zweig aufgeben darf und wie man Linux flüssig auf einem Pentium 4 zum laufen bekommt. Die nächste Auseinandersetzung dieser Art steht unmittelbar bevor, wenn Wayland als Standard in die ersten Distributionen einziehen wird. Viele der konservierenden Desktops werden schon aus Entwicklermangel diesen Schritt nicht nachvollziehen können.
In einer Gemeinschaft, bei der die meisten Entwickler aus der Community stammen, hat das gravierende Auswirkungen. Warum sollte man sich mit neuen Ideen in eine Gemeinschaft einbringen, die jedwede Neuentwicklung mit hoher Wahrscheinlichkeit verreißen wird? Man muss schon ein dickes Fell haben (und möglicherweise auch ein entsprechendes Auftreten) um den Shitstorm auszuhalten, den beispielsweise so mancher systemd- oder KDE-Entwickler in den letzten Jahren über sich ergehen lassen musste. Die Folgewirkung auf den allgemeinen Umgangston muss man da gar nicht erst thematisieren.
Interessierte und talentierte Personen können sich auch anderen Projekten mit einer niedrigen Partizipationsschwelle zu wenden. Seit Jahren kann man z.B. beobachten, das rund um Android eine aktive Community entsteht, die das Projekt auch unabhängig von Google voran bringt.
Der Linux-Desktop verödet hingegen zunehmend. Die größten Änderungen bringen die von RedHat blue systems bezahlten GNOME- und KDE-Entwickler ein. Das Anwendungsökosystems stagniert dagegen zusehends. Den Sprung auf neue Geräteklassen hat man trotz vielfältiger Ankündigungen nicht geschafft – auch wenn so mancher reaktionäre Anwender hinter den neuen Oberflächen von Plasma und GNOME 3 gleich dieses ominöse “Touch” wittert und “Satan” ruft.
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