Neue Linux-Distributionsmodelle – So viel ändert sich nicht

Wenn es um unveränderbare Linux-Distributionen (sogenannte „immutable“ Systeme) wird sehr viel Halbwissen erzählt. Die Maintainer werden überflüssig, Corporate Linux übernimmt die Macht, niemand braucht mehr Pakete, Unix-Prinzipien werden verraten etc. Dahinter steckt Angst vor Veränderung und Unwissenheit, aber vieles ist schlicht falsch.

In diesem Artikel möchte ich auf einige Mythen eingehen, die implizit oder explizit immer wieder aufkommen.

1. Niemand benötigt mehr Pakete

Unveränderbare Distributionen basieren auf Images, die herunterladen und schreibgeschützt eingehängt werden. Die Distributionen arbeiten entweder mit Snapshots oder sogenannten A/B Systemen. Für den Anwender unterscheiden sich diese kaum. Es benötigt einen Neustart, um in die neue Basis zu booten. Zur Verwaltung dieser Images haben alle „neuen“ Distributionen ihre Paketverwaltungen verändert oder spezialisierte Alternativen entwickelt.

Diese Images bestehen aber letztlich nur aus einer kuratierten Auswahl von Paketen. Ohne Pakete gibt es keine Images. Bei Fedora kann man beispielsweise sehr transparent sehen, wie bei Updates einzelne Pakete aktualisiert, neue Pakete in das Image aufgenommen und andere entfernt werden.

Richtig ist jedoch, dass der Anwender selbst kaum noch direkten Kontakt mit den Paketen hat. Updates oder Upgrades basieren ebenso nicht mehr auf der fehleranfälligen, weil kleinteiligen Aktualisierung von Hunderten einzelnen Paketen mit ihren komplexen Auflösungsroutinen.

2. Niemand braucht mehr Maintainer

Das ergibt sich aus Punkt 1. Da die Images weiterhin aus Paketen bestehen und diese Pakete ebenso wie die Images nicht von selbst gebaut, gepflegt und aktualisiert werden, benötigt es natürlich noch Maintainer. Sie bekommen sogar eine neue Aufgabe, weil die Images mit den Kernbestandteilen einer Distribution wie Silverblue oder Kinoite kuratiert werden müssen.

3. Niemand braucht mehr Distributionen

Die bisher entstandenen Distributionen mit einem unveränderbaren Ansatz – Fedora Silverblue und Kinoite, MicroOS, Endless OSS, Vanilla OS – unterscheiden sich so sehr voneinander, wie dies bisher auch der Fall war. Es gibt keinen Grund zur Vermutung, dass sich dies ändern könnte.

4. UNIX-Prinzipien werden verraten

Unveränderbare Distributionen schmeißen in der Dateisystemhierarchie nun sogar noch die Pfeiler um, die der usrmerge stehen gelassen hat. Das Home-Verzeichnis wird sogar unter /var eingehängt. Ketzerei! Der UNIX-Prinzipien-Punkt kommt sehr regelmäßig bei tiefgreifenden Veränderungen. Für den usrmerge hat dieses Argument Ferdinand Thommes schon mal auseinandergenommen. Die UNIX-Richtlinien sind in einem bestimmten Kontext entstanden und müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden. Sie sind nicht der Aufruf dazu, Betriebssysteme bis auf alle Ewigkeit nach Designprinzipien der 1990er-Jahre zu organisieren.

Es gab und gibt übrigens nie den Grundsatz, dass alle Bestandteile vom Kernel auf der Kommandozeile bis zum Browser mit derselben Paketverwaltung verwaltet und in die Dateisystemstruktur eingegliedert werden muss. Bei BSD wurde das schon immer anders gehandhabt und dort ist man oft prinzipienfester als bei Linux. Flatpaks & Co sind also überhaupt kein Verrat an irgendwelchen Prinzipien.

5. Das System wird chaotisch

Nein, eigentlich nicht. Es gibt zwei bis drei zentrale Mechanismen (abhängig davon, ob man Toolboxen nutzt).

  1. Das Basissystem in Form des Images. Damit hat man als Anwender wenig zu tun, es stellt halt das Betriebssystem als solches zur Verfügung.
  2. Dazu kommen noch die Flatpaks für die Anwendungen. Diese liegen sehr aufgeräumt unter /var/lib/flatpak und sind sauber getrennt vom System. Die Einstellungen wiederrum liegen im Home-Verzeichnis in einer ebenfalls sehr aufräumten Struktur unter .var und lassen sich dadurch sehr gut sichern und wiederherstellen.
  3. Manche Anwender benötigen weitergehen Optionen und betreiben mittels Toolbox oder Distrobox Container. Diese liegen ebenfalls im Home-Verzeichnis unter .local/share/containers.

6. Viele Köche verderben den Brei

Das Betriebssystem vom Distributor, Programme über Flathub – was für viele Anwender anderer Betriebssysteme selbstverständlich wäre, löst bei Linux-Anwendern Besorgnis aus. Wird das nicht unsicher? Harmoniert das alles?

Ja tut es, so sind die Systeme vom Design angelegt. Die Distributionen konzentrieren sich nun wieder auf das eigentliche Betriebssystem, die Desktopumgebungen und einen Kern an Anwendungen. Nebenbei bemerkt sind die Diskussionen darüber, was dieser Kern ist, äußerst spannend zu lesen. Angesichts problematischer Personalressourcen ist diese Konzentration auch total sinnvoll.

Dazu kommen Anwendungen über Flathub. Für mehr Transparenz wurde hier nun auch ein Verifikationssystem eingeführt. Ich verwende Software von KDE und Mozilla, warum sollte ich also nicht der Software trauen, die auf Flathub von KDE und Mozilla selbst betreut wird? Oder von GNOME oder von zig anderen unabhängigen Entwicklern.

7. Ich habe gelesen, dass…

es unsicher, ineffizienter, anders, gefährlich, kommerziell, verschwörerisch usw. usf. wird. Stopp! Die Entwicklung zu unveränderbaren Distributionen und einer Umstellung der Anwendungsverteilung wird von Firmen wie Red Hat, SUSE und Canonical vorantrieben, aber ebenso von agilen Communitys wie Endless (die aktuell viel zur GNOME-Entwicklung beitragen). Die haben Kunden, die haben Nutzer, die wollen Linux nicht zerstören, sondern weiterentwickeln und auf aktuelle und künftige Einsatzszenarien vorbereiten. Das bewahrt sie natürlich nicht vor Irrtümern, aber sie haben das Ohr stärker an den Bedarfen der Kunden als viele Communitys mit ihren eher geschlossenen Echokammern.

Wenn man also solche Vorhalte liest, sollte man sich (wie bei jedem anderen Thema auch) fragen, ob der Schreiber nicht nur seine eigenen Ängste und Unsicherheiten ausdrückt oder ob er einem Projekt verpflichtet ist, dass diesen Weg (noch) nicht mitgeht.

Cruiz
Cruizhttps://curius.de
Moin, meine Name ist Gerrit und ich betreibe diesen Blog seit 2014. Der Schutz der digitalen Identität, die einen immer größeren Raum unseres Ichs einnimmt ist mir ein Herzensanliegen, das ich versuche tagtäglich im Spannungsfeld digitaler Teilhabe und Sicherheit umzusetzen. Die Tipps, Anleitungen, Kommentare und Gedanken hier entspringen den alltäglichen Erfahrungen.
  1. Moin Gerrit. FullACK. Schlimm, dass man in einem, eigentlich progressiven Umfeld wie einer Linux Community, so einen Artikel schreiben muss. Wenn ich ständig bei Linuxnews die Kommentare so lese, wird einem ganz anders. Danke für Deine Aufklärung!

  2. Ich habe bei openSUSE nachgefragt, wie sie gedenken KDE in Flatpak und MicroOS zu gießen, das sehr stark auf gemeinsame Komponenten und Plug-in Architektur setzt, das sich schwierig sandboxen lässt, ohne dass es redundant wird. Die Antwort des Projektleiters war https://en.opensuse.org/index.php?title=KDE&type=revision&diff=172285&oldid=136112 fast schon geschichtsrevisionistisch. SUSE war ja nie eine KDE Distribution und habe gar keinen Standard-Desktop. Alle technischen Probleme einfach ignorieren. Für mich ein Rezept für Desaster.

    • KDE pflegt doch selbst schon ziemlich viele Flatpaks? (https://beta.flathub.org/de/apps/collection/project-group/KDE/1) Also, was ist deine Frage oder dein Problem? Es zeichnet sich bereits ab, dass KDE im Zuge der aktuellen Entwicklung viele Irrwege der letzten 10 Jahre kappen und/oder umbauen wird. Den aktuellen Stand von KDE und MicroOS kannst du dir übrigens ansehen, ist ja als Alpha verfügbar.

      OpenSUSE hat übrigens schon sehr lange keinen Standard-Desktop mehr. Leute, die openSUSE wirklich nutzen, wissen das schon lange. Traditionell nutzen vermutlich viele openSUSE-Benutzer noch KDE-Software, aber ob das noch die Mehrheit ist, weiß wohl niemand. Dieser Standard-Desktop-Mist kommt auch selten von openSUSE-Anwendern, sondern meist von den KDE-Leuten, die Angst um ihre letzte Bastion haben. OpenSUSE sollte sich aber nicht von KDE-Interessen leiten lassen, sondern von den Interessen der eigenen Community. Aktionen wie seinerzeit die Standard-Desktop-Kampagne von KDE waren ein ziemlicher Rohrkrepierer, weil sie einen legitimen Mechanismus von openSUSE zur Berücksichtigung von Nutzerwünschen gekapert haben.

    • Ich verstehe die ganze unruhe nicht, es gibt genug linux versionen, man muss nicht diese neuen verdionen benutzen. Finde so eine weiterentwicklung suorr, das bedeutet das linux nicht stehen bleibt

      Gruss
      Gerriet – ja auch gerriet, nur mit ie 😁

  3. Hättest Du mal einen Link zu einer Diskussion, wo ernsthaft behauptet wird, dass man zukünftig keine Pakte und Maintainer mehr braucht? Kann mir nicht vorstellen, dass jemand sowas ernsthaft behauptet. (Oder hast du dir nur ausgedacht, dass es solche Diskussionen geben könnte könnte, um hier „schlaue“ Aufklärung zu betreiben?)

  4. „Diese Images bestehen aber letztlich nur aus einer kuratierten Auswahl von Paketen“.

    Kuratiert heißt, der Distributor hat die Paket-Auswahl für mich getroffen und ich kann sie nicht ändern.  Damit fällt aber ein großer Vorteil für mich weg – nämlich, dass ich das System selbst genau so zusammmenstellen kann wie ich möchte.

    • Ist definitiv richtig. Wer das wirklich genutzt hat, für den sind so neue Systeme nichts. Ich glaube das ist unbestritten und wird immer eine Existenzberechtigung für traditionelle Distributionen wie Debian bleiben. Egal was sich sonst so entwickelt.

      Ich persönlich (!) finde dieses Argument aber für die allermeisten Nutzer überschätzt. Linux hat sich stark homogenisiert, die Basis ähnelt sich enorm bei den verschiedenen Installationen. Es ist in vielen Fällen doch eher eine gefühlte Individualisierung der Basis. Viele Anwender passen die Basis sogar gar nicht an. Sei es aus Desinteresse, weil sie es nicht können oder sich lieber auf andere Sachen konzentrieren möchte und die Basis schlicht einfach laufen soll. Hier können unveränderbare Distributionen ihre Stärken ausspielen.

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