Kommentar: Brandmauer gegen Verschwörungserzählungen

Verschwörungserzählungen oder Verschwörungsideologien sind in jüngster Zeit vor allem im Kontext der Corona-Pandemie und russischer Desinformationskampagnen Thema, aber auch in der „Privacy-Szene“ gibt es viele Akteure mit Affinität zu Verschwörungserzählungen. Die Community tut sich da schwer eine Brandmauer zu ziehen.

Es ist nur logisch, dass ein Thema wie globale Massenüberwachung mehr Leute mit Affinität zu Verschwörungserzählungen anzieht, als eine Diskussionsplattform über Hamsterhaltung. Umso wichtiger ist es, sich klar abzugrenzen. Denn auch bei diesem Thema gibt es Fakten, die belegt sind und Interpretationen und Meinungen, die auf diesen belegten Fakten aufbauen. Daneben kursieren aber eine Fülle von Halbwahrheit und lange widerlegten Mythen, die teilweise von der Community liebevoll gepflegt werden. Nicht jeder, der solche Halbwahrheiten weiterträgt oder Mythen aufsitzt, glaubt an Verschwörungserzählungen, aber eine Community, die insgesamt nicht mehr zwischen Fakten und „alternativen Fakten“ trennen kann, hat irgendwann ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Dabei beobachte ich schon länger, dass es vielen Menschen schwerfällt sich klar gegen Vertreter von Verschwörungserzählungen abzugrenzen, selbst wenn sie selbst gar keine Affinität dazu haben. Das betrifft umso mehr Betreiber von Blogs oder Foren, die Angst vor dem Vorwurf der Zensur auf ihrer Plattform haben. Das stete „das wird man wohl noch sagen dürfen“ hat hier scheinbar ebenso verfangen, wie eine latente Medienkritik in weiten Teilen der Gesellschaft. Dadurch ist die Grenze hin zu einer fundamentalen Ablehnung der gemeinsam geteilten Faktenbasis, die sich im gesellschaftlichen Diskurs, nicht nicht zuletzt über die Medien, bildet, durchlässig geworden.

Wo ist hier die Grenze bzw. wer läuft Gefahr, in Richtung Verschwörungserzählungen abzurutschen. Dazu möchte ich ganz aktuell das Gespräch mit Josef Holnburger im SPIEGEL Podcast 8 Milliarden empfehlen. Das Thema ist zwar konkret russische Desinformation, aber Holnburger schafft es sehr gut, wichtige Mechanismen auf den Punkt zu bringen. Unter anderem eben, wer Gefahr läuft in Richtung Verschwörungserählungen abzugleiten.

Anfällig sind nach Holnburger Personen, die hinter allen Geschehnissen eine Verschwörung sehen. Hinter allem muss eine (geheime) Organisation, Gruppe oder eben Einzelperson stehen, die mit böser Absicht die Strippen zieht. Diese Gruppe kontrolliert natürlich immer die Medien und die Wissenschaft, weshalb Personen mit Hang zu Verschwörungserzählungen etablierte Medien komplett ablehnen. Jedes neue Ereignis prüft so ein Mensch auf die geheime Botschaft dahinter ab, weil hinter allem der vermutete große Feind stehen muss. Dadurch ergibt sich ein Zirkelschluss, weil aus Ablehnung von Wissenschaft und etablierten Medien und der steten Suche nach der tieferen Verschwörung ein Kreislauf wird, bei dem diese Leute dann oft vermeintlichen Alternativerzählungen aufsitzen, die sie irgendwo finden und für glaubwürdiger halten. Teils geteilt und verbreitet in böswilliger Absicht, teils von Verschwörungsideologen weitergetragen. Innere Widersprüche solcher Alternativerzählungen können Menschen mit einem Hang zu Verschwörungserzählungen sehr gut ausblenden. Logik ist deshalb kein probates Mittel, auf das man vertrauen kann.

Dabei sollte man nicht denken, dass es immer nur um die große Verschwörungserzählung mit globaler Reichweite geht, sondern es gibt auch kleine Verschwörungserzählungen mittlerer Reichweite. Genau diesen Typus findet man in der „Privacy Szene“ extrem oft. Irgendwelche eigentlich kleinen Skandale, die von Menschen mit einem Hang zu solchen Themen zu einer größeren Verschwörung zusammen gestrickt werden, gehypte Meldungen, deren sachliche Aufklärung man dann geflissentlich überliest, sorgsam gepflegte urbane Legenden etc. pp.

Vermutlich kennt hier jeder der Leser mindestens eine Person auf die diese Beschreibung zumindest in Teilen zutrifft. Besonders wichtig – darum geht es später im Podcast – ist so eine Erzählungen nicht unwidersprochen zu lassen, weil Anhänger von Verschwörungserzählungen ausbleibenden Widerspruch als Zustimmung deuten.

Ich sehe hier Plattformanbieter wie Blogger oder Forenbetreiber in der Pflicht. Entweder ringt man sich zu einer klaren Moderationslinie durch, bei der solchen Inhalten kein Raum gegeben wird, oder man lässt solche Kommentare zu, aber widerlegt sie sofort. Ebenso sollte man nicht auf Seiten verlinken, über die Verschwörungserzählungen geteilt werden, selbst wenn dort irgendwo auch gute Inhalte stehen, denn man überträgt dadurch die beim Leser wahrgenommene eigene Glaubwürdigkeit auf die verlinkte Seite. Die Arbeit muss man sich dann machen, denn mit dem Betrieb einer Plattform geht auch Verantwortung einher. Wer sich hinter Neutralitäts- und Meinungsfreiheits-Floskeln wegduckt, ist letztlich mitverantwortlich für die Verbreitung potenziell gefährlicher Verschwörungserzählungen. Plattformbetreiber müssen deshalb eine Brandmauer ziehen.

Wer sich tiefer mit Verschwörungserzählungen beschäftigen möchte, für den gibt es zahlreiche wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Literaturtitel. Zwei möchte ich hier mal empfehlen:

Cruiz
Cruizhttps://curius.de
Moin, meine Name ist Gerrit und ich betreibe diesen Blog seit 2014. Der Schutz der digitalen Identität, die einen immer größeren Raum unseres Ichs einnimmt ist mir ein Herzensanliegen, das ich versuche tagtäglich im Spannungsfeld digitaler Teilhabe und Sicherheit umzusetzen. Die Tipps, Anleitungen, Kommentare und Gedanken hier entspringen den alltäglichen Erfahrungen.
  1. Was wäre denn ein Beispiel für eine Verschwörungserzählung mittlerer Reichweite oder urbanen Legende in der Privacy Szene?

    Ich frage, da ich mich gerne mit dem Thema Datenschutz beschäftige, gefühlt aber selbst etwas zu „extrem“ in meinen Ansichten geworden bin. Aktuell versuche ich, das Thema wieder etwas gelassener/nüchterner anzugehen.

  2. Die Verbindung von NSA und SELinux oder die _NSAKEY in Windows Geschichte würde ich als gefährliche urbane Legende (mit dem Potenzial, einen Baustein für eine Verschwörungserzählung mittlerer Reichweite zu bilden) einstufen.

  3. Ach Mensch, ich mag einfach deinen Blog. Deine nüchterne Schreibweise, interessante Verweise und deine Bandbreite in der Themenauswahl finde ich klasse und kurzweilig. Danke und mach weiter so!

  4. Klar, bin voll deiner Meinung, beobachte ich leider auch zu oft. Aber mach doch bitte einen Anfang und verlinke nicht mehr auf das Privacy Handbuch. Das Blog dort verbreitet echt krasse Erzählungen.

  5. Was ist denn an einer „latente Medienkritik“ falsch?
    Mittlerweile würde ich sogar noch weiter gehen und die meisten Medien kritisieren, da diese oft nicht mehr informieren sondern belehren wollen, ohne das wir darüber informiert werden in wessen Auftrag.

    Das Problem bei privacy ist aber eher der, der fehlenden Informationen. Wir können uns zwar technisch informieren und vielleicht Details darüber ermitteln, welche Daten wohin fliessen. Aber das ist ja eigentlich nur die Wurzel des Frage. Denn warum und von wem finanizert die Techbranche Milliarden mit unseren Daten verdient, kann keiner vollständig erklären. Nur das Marketing kann eigentlich nicht den Wert dieser Unternehmen ausmachen. Was google, Facebook, Amazon usw. mit den Daten, die sie bekommen, letztlich machen müsste eigentlich die Fragen der „privacy szene“ sein. Das durch diese Lücken auch „Verschwörungen“ entstehen, ist dadurch das wir ja auch Wissen, dass diese Daten für Staaten und Geheimdienste interessant sind, nicht ungewöhnlich. Aber es ist gut, wenn sie widerlegt werden können.

    • Es gibt keine Lücken. Das ist ja das witzige an solchen Erzählungen, wie du sie hier anreißt. Die Lücke wird behauptet und entspringt nur der eigenen Unkenntnis und dem Willen sich damit sachlich zu befassen. Hinter den von dir angerissenen Prozessen stecken normale und erklärbare Phänomene. Schau dir die Bilanzen und Dividenden an, viele der Unternehmen erwirtschaften enorme Erträge und schütten reale Dividenden aus. Befasse dich mit der Politik der Zentralbanken, Geldschwemme, Investmentmodellen, Flucht in Aktienmärkte etc. pp. Dazu gibt es gute und auch einigermaßen verständlich geschriebene Fachbücher. Dasselbe gilt für Medienmärkte und Meinungsbildung in pluralistischen Gesellschaften.

      Aber man kann natürlich bequem sein und die typischen Verschwörungstheortikerfragen stellen, die du hier bringst: Wem nützt es? Wer könnte da ein Interesse daran haben? Wer gibt den Auftrag? Wer zieht die Fäden? Dann kann man das beliebig an ein bestehendes Weltbild anknüpfen und alles ergibt vermeintlich einen Sinn und man muss sich keine schwierigen Fragen stellen oder gar in neue und fremde Themen einlesen.

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