Selbstermächtigung als Placebo gegen digitale Ohnmacht?

Gegen die immer übergriffigere Digitalwirtschaft und die Tendenz aller westlichen Staaten, digitale Überwachungsinstrumente auf- und auszubauen, hat sich in den letzten Jahr(zehnten) eine lebendige Gegenbewegung formiert. Viele empfehlen eine Strategie der digitalen Selbstermächtigung. Doch führt dieser Weg wirklich zum Ziel?

Das digitale Dilemma unserer Zeit ist relativ einfach zu erklären. Die Digitalisierung unseres Privat- und Berufslebens erfasst immer mehr Bereiche. In zahllosen Bereichen ist das mit substanziellen Fortschritten für unsere Gesellschaft verbunden. Das bestreiten nur solche – in der Regel privilegierten – Menschen, die auch an die Bergbauernromantik des 19. Jahrhunderts glauben. Gleichzeitig erzeugt jeder Einzelne von uns immer mehr Daten und die technologische Entwicklung führt dazu, dass diese Daten in immer größerem Umfang gespeichert und ausgewertet werden können. Der gläserne Mensch (Verbraucher, Wähler etc. pp.) ist kein Zukunftsversprechen, sondern Realität.

Dagegen formiert sich vor allem in Europa viel Widerstand. Datenschutzaktivisten, Netzpolitiker, Bürgerrechtler und viele weitere Strömungen haben sich in einer nicht immer ganz konvergenten Allianz zusammen gefunden. Vor allem aus dem informationstechnischen Bereich der Datenschutzaktivisten wird seit vielen Jahren eine Strategie der Selbstermächtigung propagiert. Etwas simplifiziert ausgedrückt folgt diese dem Grundsatz Mit genug technischen Maßnahmen kannst Du dich dieser allgegenwärtigen Überwachung entziehen. Die Schlagworte dieser Bewegung sind Open Source, Hardening, Verweigerung digitaler Dienste und vieles weitere.

Es spricht natürlich gar nichts gegen den reflektierten Einsatz von Technik und ihrer Möglichkeiten. Viele Maßnahmen haben zudem doppelte Zielsetzungen. Mit guter Verschlüsselung schütze ich mich beispielsweise nicht nur vor dem unwahrscheinlichen Fall eines staatlichen Übergriffes, sondern auch vor den neugierigen Blicken meines vielleicht übergriffigen sozialen Umfelds. Zwischen dem weitestgehend arglosen Umgang mit digitalen Daten, wie er in den frühen Nuller Jahren (und vermutlich auch heute noch bei vielen) allgegenwärtig war und einer total abgeschirmten digitalen Existenz liegt schließlich eine riesige Spannbreite.

Abgesehen von solchen nicht oder zumindest nicht primär intendierten Nebeneffekten stellt sich die Frage: Ist es das wert? Ist es mehr als nur ein Placebo-Effekt für das eigene Gewissen? Vermutlich würden nur Alphabet/Google oder die NSA uns das verraten können. Ich vermute jedoch, die Antwort ist eine Variante von “Nein”. Schließlich konzentrieren sich nicht umsonst alle Ratgeber, Blogger und sonstige Experten auch jene zwei, drei Bereiche, die wir vermeintlich selbst kontrollieren können: Computer, Smartphone und Internetaktivitäten. Manche nehmen noch das Bezahlverhalten und ein paar kleinere Bausteine hinzu.

Wozu auch mit Dingen befassen, die wir nicht ändern können. Genau dieses Gefühl der Ohnmacht wollte man schließlich bekämpfen. Dieser Aktionismus rührt aus einer vereinfachten Wahrnehmung der Snowden-Veröffentlichungen, die in vielen medialen Verarbeitungen in einen Aktionismus Was können wir tun? Was kannst du tun? Was du tun musst! umschlugen. In gewisser Weise also hektische Handlungen zur Verarbeitung und Bewältigung der wahrgenommenen Ohnmacht.

Dabei ist das Ausmaß staatlicher Überwachung doch längst darüber hinaus gewachsen. Allgegenwärtige Videoüberwachung, Pilotprojekte zur Gesichtserkennung, Datenbanken mit Personenlisten, die Zusammenführung von Reisedaten, massenhafte Standortabfragen über Mobilfunkmasten, die aktuellen Tendenzen in der Gesundheitspolitik usw. usf. Hinzu kommen immer intelligentere Geräte um uns herum. Wenn ein Smartphone ein Datenschutz-Albtraum ist, was ist denn dann ein modernes Auto?

Wenn man sich das anguckt, kommt man nicht umhin, die Tendenz zur Selbstermächtigung als Sackgasse zu begreifen. Was waren die großen Erfolge der letzten Jahre? Meiner Meinung nach die DSGVO und die Schremms-Urteile. Also kurz und knapp: Politischer Aktivismus und juristische Durchsetzung erreichter gesetzlicher Rahmenbedingungen. Man kann Selbstermächtigung, politische Einflussnahme und die Durchsetzung des Erreichten natürlich als komplementäre Bestandteile der gleichen Zielsetzung begreifen. Meine Wahrnehmung ist da leider eine andere. Bei vielen Verfechtern der digitalen Selbstermächtigung findet sich eine maßlose Verachtung für die Politik und den Staat. Etwas überspitzt gesagt: So mancher Vorkämpfer der digitalen Abwehrschlacht hat schon länger keine Wahlkabine mehr von innen gesehen. Digitale Selbstkasteiung ohne politische Flankierung ist nur leider nicht einmal die halbe Miete. Im Endeffekt hat man im schlimmsten Fall digitale Isolation ohne Mehrwert.

Diese Schlussfolgerung ist natürlich durch das politische Umfeld vorbestimmt. Untertanen totalitärer Diktaturen oder auch nur autokratischer Systeme können sich nur in digitaler Selbstermächtigung üben, da der Weg politischer Partizipation in die Sackgasse, das Gefängnis oder schlimmstenfalls auf den Friedhof führen. Gruppen, die Aktivisten oder betroffenen Personen in solchen Ländern helfen möchten kann man diesen Weg wirklich nicht zum Vorwurf machen. Wer allerdings in funktionierenden westlichen Demokratien lebt, der sollte dem politischen Prozess und den juristischen Möglichkeiten vielleicht mehr Aufmerksamkeit schenken, als der neuen Modifikation seines Smartphones mit dem man die Cloud noch ein bisschen mehr draußen hält.

Cruiz
Cruizhttps://curius.de
Moin, meine Name ist Gerrit und ich betreibe diesen Blog seit 2014. Der Schutz der digitalen Identität, die einen immer größeren Raum unseres Ichs einnimmt ist mir ein Herzensanliegen, das ich versuche tagtäglich im Spannungsfeld digitaler Teilhabe und Sicherheit umzusetzen. Die Tipps, Anleitungen, Kommentare und Gedanken hier entspringen den alltäglichen Erfahrungen.

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