(Unix) Graubärte – Gibt es sie und welche Auswirkungen hat das?

In vielen meiner Blogartikel sortiere ich eine Gruppe von Administratoren und Anwendern unter die Graubärte ein. Damit bediene ich mich eines Begriffs von der FOSDEM, um eine Entwicklung in der Community zu skizzieren.

Graubärte – Was soll dieser Begriff eigentlich aussagen. Graubärte (auf der FOSDEM-Präsentation humoristisch mit Gandalf aus Herr der Ringe illustriert) bezeichnet Männer in einem fortgeschrittenen Lebensalter und ihre Haltung zu Veränderungen.

Mit Zahlen und Fakten ist es in der Community ja immer so eine Sache. Es gibt keine repräsentative Erhebung über “den Linux-Anwender” oder “den Linux-Administrator” oder “den typischen Community-Aktivist”. Meine folgenden Beobachtungen sind Schlussfolgerungen aus dem, was man in großen Foren und Kommentarspalten so an Informationen nebenbei abgreifen kann.

Relativ unstrittig dürfte das Geschlecht sein. Die überwiegende Mehrheit der Administratoren, Anwender und Community-Aktivisten ist männlich. Anteil vermutlich >90%.

Bart ist damit schon mal eine zutreffende Sache. Warum aber nun Graubärte? Nun, nicht nur Linux Torvalds oder Greg Kroah-Hartman sind mit ihrem Produkt mit gealtert, das trifft auch auf viele Projekte zu. GNOME und KDE haben das beide kürzlich transparent dargestellt und gezeigt, dass ein großer Sockel an Entwicklern seit vielen Jahren dabei ist. Dazu kommen natürlich auch immer wieder neue Entwickler, aber diese dominieren die Projekte nicht.

Das betrifft aber nicht nur die Entwickler, sondern auch die Administratoren und einfachen Endanwender. Wenn man die Diskussionen und Erfahrungsberichte bei Plattformen wie Heise, Golem oder in vielen Foren beobachtet, dann werden dort Erfahrungen geteilt, die sich datieren lassen. Wenn von SuSE 9.3 oder Debian Etch die Rede ist, sind damit Jahreszahlen verknüpft. Plakativ gesagt: So mancher Bachelor-Student der Informatik im Jahr 2021, hat gerade das Laufen gelernt als diese Kommentatoren ihre prägenden Erfahrungen mit Linux machten. Man muss kein Rechenkünstler sein, um die meisten dieser Anwender heute jenseits der 40 Lebensjahre zu sehen.

Bei einer organisch wachsenden Community ist das nur logisch. Warum sollte auch jemand, der 2004 auf Linux wechselte, 2021 etwas anderes nutzen. Ein zweites Problem verstärkt das aber noch: Nachwuchsmangel. Ein ganz erheblicher Teil der heutigen Linux-Nutzer wechselte spätestens rund um den Netbook-Hype und die Veröffentlichung Windows Vista. Diese Erfahrung findet sich immer wieder in den Kommentaren. Windows 10 und die Datenschutz-Problematik hat keinen vergleichbaren Schwung erzeugt.

Die Ursache dürfte in der sinkenden Bedeutung der Geräteklasse liegen. Linux ist für Privatnutzer auf dem klassischen Notebook und Desktop-PC festgenagelt und der verliert als Privatgerät sukzessive an Bedeutung. Natürlich bleibt es als Arbeitsgerät wichtig, aber hier hat man nur selten die Hoheit über das Betriebssystem. Mangelnde Bedeutung und mangelnde Beschäftigung mit dem System führen ganz automatisch zu weniger Umsteigern. Zumal Linux hier auch noch in direkter Konkurrenz zu macOS steht, das sich vor allem bei der jüngeren, akademisch geprägten Zielgruppe in den letzten Jahren fest verankern konnte. Das kann man auf allen Diskussionsplattformen der Community beobachten.

Diese Entwicklung kann man nur begrenzt beeinflussen, aber man sollte zur Kenntnis nehmen, dass sie Auswirkungen hat. Ein 20-Jähriger hat andere Erfahrungen gemacht als ein 40-Jähriger oder ein 60-Jähriger. Die Lern- und Veränderungsbereitschaft wandelt sich ebenfalls im Laufe der Zeit und die meisten Menschen machen irgendwann nicht mehr alle (technischen) Trends mit. Gewohnheit wird gerne mit Funktionsfähigkeit gleichgesetzt und Veränderungen gefährden naturgemäß die eigene Kompetenz.

Eine Gemeinschaft, die altert und eben nicht mehr im Schnitt aus 25-Jährigen, sondern eher aus 45-Jährigen besteht (männlich dominiert, bleibt sie dennoch…) reagiert anders auf Herausforderungen und Veränderungen. Progressive Haltungen nehmen zugunsten einer konservativen Grundhaltung ab. Nicht umsonst hat die CDU bei Wählern im fortgeschrittenen Lebensalter immer höhere Stimmanteile als bei Unter-30-Jährigen. Diese Grundeinstellung gilt nicht nur für Politik, sondern auch für Technik.

Die Kunst besteht darin, sich trotz dieser Entwicklung weiterhin zu erneuern und zu Innovation fähig zu bleiben. Vor der Herausforderung stehen Firmen genau so wie Communitys. Es wird sich zeigen, ob die Linux-Gemeinschaft das kann oder ob sie mit ihren Anwendern und Geräteklassen veraltet.

Cruiz
Cruizhttps://curius.de
Moin, meine Name ist Gerrit und ich betreibe diesen Blog seit 2014. Der Schutz der digitalen Identität, die einen immer größeren Raum unseres Ichs einnimmt ist mir ein Herzensanliegen, das ich versuche tagtäglich im Spannungsfeld digitaler Teilhabe und Sicherheit umzusetzen. Die Tipps, Anleitungen, Kommentare und Gedanken hier entspringen den alltäglichen Erfahrungen.
  1. Ich selber nutze Unixoide Systeme seit über 25 Jahren. Arbeite auch solange schon in der IT – von Admin und Entwickler bis Projektleiter. Ich für meinen Teil sehe mich nicht als Innovationsfeindlich an oder Spaßbremse bei neuen Technologien. Und irgendwie habe ich mit meinen derzeit bevorzugten Systemen (Android und ChromeOS) ja trotzdem mein Linux nicht nur auf meinen Servern. Aber trotz vieler Versuche hat es Linux auf dem Desktop bei mir auch nie wirklich geschafft mehr als eine Nische zu sein.

    In meinem Umfeld, eine weltweiten Großkonzern, sehe ich aber ebenfalls die von dir Skizzierten Entwicklungen. Die Innovationen aus der Leitungsebene stoßen bei den Machen auf den Operativen Ebenen immer mehr auf Ablehnung bis Gegenwehr.

    Mit der derzeitigen Entwicklung zu immer mehr Cloud/Browser basierten Lösungen und der damit einhergehenden Loslösung von der Verfügbarkeit für ein spezielles Betriebssystem sehe ich aber eine nicht unerhebliche Chance für Linux als “WebFrontend Thinclient”, ähnlich ChromeOS.

  2. Erst mal fürs Ego: Ich bin auch Ü45 und gelte bei meinem Arbeitgeber (Behörde) noch als “junger Nachwuchs”. Kann man die Graubart Definition nicht bitte wenigstens auf ü 50 erhöhen :D.

    Ansonsten wird die Frage nach den Auswirkungen im Artikel ja leider nur aufgeworfen aber nicht beantwortet. Für mich ist das aber ein Henne und Ei Problem. Der Gemeinschaft mangelt es an Nachwuchs, deswegen überaltert sie, und weil sie von alten weißen Männern dominiert ist, wir sie zunehmend unattraktiv für jungen Nachwuchs.

    Dazu kommt aber in meinen Augen auch, das der Einstieg in die Entwicklung viel schwerer geworden ist, weil die Systeme immer komplexer werden, und die Ansprüche an Software immer höher. Ein Beitrag als Hobbyprojekt in der Freizeit wird immer schwieriger. Das Linux nie wirklich den Sprung auf die mobilen Plattformen geschafft hat, hilft auch nicht bei der Nachwuchsgewinnung.

    • Ich denke es würde schon reichen, wenn man neuen Entwicklungen ggü. offener ist. Man muss es ja nicht gleich selbst nutzen.

      Ich finde das Klima für neue Trends in der Community geradezu toxisch. Da reichen ja schon zwei verschobene Designelemente bei Firefox. Ein Entwickler oder eine Entwicklergruppe, die irgendetwas neu konzipiert und sich gleich dem Shitstorm des Jahrzehnts ausgeliefert sieht, wie lange bleibt die wohl dabei? Man kann z. B. auch für vielversprechende Projekte spenden, ohne diese selbst aktiv zu nutzen.

      • Klar solche Shitstorm kenne ich. Aber ist das wirklich ein Graubart / Linux Problem? gibt es dass nicht bei jeder Änderung an beliebter Software, egal ob Systemd oder Facebook Messenger?

        • Ich kenne dazu keine Studie, aber ich vermute, dass eine jüngere Gemeinschaft im Schnitt (!) Neuerungen offener gegenüber steht als eine ältere Gemeinschaft. Einfach weil sie weniger festgefahren ist und weniger persönliche Kompetenz auf dem Spiel steht. Warum sollte Technik / OSS hier ggü. anderen gesellschaftlichen Phänomen eine Ausnahme sein?

  3. “Warum sollte auch jemand, der 2004 auf Linux wechselte, 2021 etwas anderes nutzen.” – Also in meinem Fall bin ich 2012 von Linux auf Erwachsenenunix (BSD, Solaris) umgestiegen, weil Linux zusehends an Qualität verloren hatte. Wenn ich die Diskussionen um systemd richtig verstehe, war das auch genau der richtige Zeitpunkt.

    Grundsätzlich fehlen der “Community” diese “Graubärte” doch deutlich, also Menschen mit Unix-Erfahrungen, die nicht bloß nach dem nächsten Hype (“Zocken auf Linux” (warum?), “alles in Container tun” (gab’s in den 70ern schon), “Cloud” (bah)) hecheln – denn gerade Stabilität, Sicherheit und Zuverlässigkeit fristen derzeit ein Schattendasein.

    Apropos: Moin, Oliver!

          • Sehr viele Dinge, die heute als “das neue heiße Ding” rumgereicht werden, sind für Unixadmins ein alter Hut. Etwas mehr Sachlichkeit und weniger Hype würden dieser Welt mal gut tun. Außerdem – was mir insbesondere fehlt – hat Unix grundsätzlich die Richtlinie “one tool, one purpose”. Heute kann jedes Programm alles, was zu Sicherheitsfehlern, Ressourcenverbrennung usw. führt. Ich bin der Ansicht, jeder, der sich mit einem unixoiden System herumschlagen 🙂 möchte, sollte wenigstens eine Woche lang versuchen, mit V7 UNIX klarzukommen. Wenn er dann das Wesentliche verstanden hat, dann möge er auf ein Klickibuntisystem (“Linuxdistribution”) seiner Wahl downgraden.

            Das ist jedenfalls meine unverbindliche Empfehlung. Das ist halt kein Windows, also sollte man es auch nicht so behandeln.

            • Genau so etwas empfinde ich als typisch “graubärtiges” Argumentationsmuster: Alles schon dagewesen/ausprobiert/umgesetzt. Brauchen wir so in der Form nicht. Setzen, danke!

              Wenn es bei Unix alles schon gab, warum nutzt es dann in der Form niemand außerhalb einer Nische? Vielleicht gibt es andere/bessere Umsetzungen? Vielleicht können neue Ansätze und vielleicht auch fehlerhafte neue Vorstöße eigene Erkenntnisse hervorbringen?

              • Naja, es wird aber auch anders herum ein Schuh ‘draus:

                Veränderung erzeugt die Illusion von Verbesserung und genauso wie ich ‘Traditionen’ hinterfragen sollte, muss ich auch “Innovationen” hinterfragen dürfen.

                Scheuklappen gibt es nicht exklusiv bei ‘alten, weißen Männern’…und aus meiner Sicht spricht Nichts dagegen von den Erfahrungen der ‘The Elders of the Internet” zu profitieren.
                Kommerzieller Erfolg ist für mich nicht gleichbedeutend mit einem besseren Produkt – ggf. sind nur deutlich mehr Ressourcen in Marketing und Lobbyismus geflossen.

                • Hab ich nirgendwo behauptet. Es hat aber Auswirkungen wenn diese Gruppe dominant ist (Zahlenmäßig, durch Positionen, Einfluss, Ansehen).

  4. Zwar stimmt es natürlich, dass es mittlerweile mehr Leute gibt die schon sehr lange Linux nutzen, einfach weil es mit jedem Moment immer länger existiert. Doch drei Anmerkungen:

    1. PCs haben sich in der Pandemie wieder sehr stark verkauft, und Konsolen haben entgegen allen Prognosen dem PC nie die Hoheit über den Spielemarkt entrissen. Das sind also nicht alles Arbeitsgeräte. Dass der PC an Bedeutung verliert wird oft wiederholt, ist aber kaum zu belegen. Wobei klar ist, dass es mit Telefon und Tablet Alternativen gibt die früher schlicht nicht da waren, prozentual wird viel mit Mobilgeräten gesurft, so gesehen ist die Bedeutung schon geringer – doch trotzdem ist der PC weiterhin unheimlich vielen wichtig. Es ist nicht im entferntesten eine Geräteklasse, die am Aussterben ist.

    2. Ist die Entwicklung des Linuxökosystems mit all den konstanten Brüchen bei den Massendistros nicht ein Beleg, dass von einer konservativ werdenden Entwicklerschaft nicht die Rede sein kann? Systemd, Wayland, Gnome, …

    3. Wurde Linux wirklich von den Jungen getragen? Oder nicht auch immer schon von alten Entwicklern, den Graubärten von damals, die nur eben mit anderen Systemen angefangen hatten?

    • Zu:

      1. Das sind aber Business-Geräte. Die Firmen haben viele Notebooks fürs Homeoffice gestellt. Da habe ich aber keine Hoheit über das OS. Natürlich haben viele noch einen PC/ein Notebook zu Hause, aber wenn ich das Ding einmal pro Jahr für die Steuererklärung hochfahre (ich übertreibe ein wenig), wie groß ist meine Bereitschaft dann mich mit tiefgreifenden Sachen wie dem System zu befassen?

      2. Drei Beispiele, die geradezu hasserfüllt bekämpft wurden/werden und die es ohne Red Hat nicht gäbe.

      3. Einfache Rechnung. Wenn um das Jahr 2000 herum, der Sockel der OSS-Entwickler 45 gewesen wäre, dann hätten wir ja gerade eine Pensionierungswelle sondergleichen am Rollen. Das sehe ich ehrlich gesagt nicht.

    • Ich finde nicht das diese Liste meiner obigen Beobachtung widerspricht. Selbst wenn man das beeindruckende Geburtsjahr 1900 an erster Position mal außer acht lassen.

      • Kommt darauf an, was man erwartet. Wenn man meint, innovative Software könnte nur von U25-jährigen entwickelt werden, sind die Archentwickler eher betagt. Aber ein Durchschnittsalter um die 40 finde ich voll okay und wäre im professionellem Umfeld in vielen Bereiche eher auf der jüngeren Seite.

        • Wo habe ich “nur” U25-Jährige gefordert?

          Ich habe darüber geschrieben, dass ein stetig wachsender Altersschnitt und mangelnder Nachwuchs die Dynamik einer Community verändert.

  5. Ich schreibe nur aus der Sicht eines (gut gealterten) Hobby-IT-lers, aber besteht nicht auch die Möglichkeit, dass bei der angeblichen mangelnden Offenheit Älterer gegenüber Innovationen eine Fehlinterpretation vorliegt? Ab einem gewissen Alter bzw. Lebenserfahrung ist man bei neuen Techniken vielleicht auch erst mal skeptisch, denn ich z.B. habe auch schon so einige anfangs gehypte Neuerungen schnell wieder in der Versenkung verschwinden sehen. Also ist es evtl. keine Innovationsfeindlichkeit, sondern einfach erlernte Vorsicht ;-).
    Den von Tux angesprochenen “gab es schon mal”-Effekt habe ich auch gelegentlich, gebe aber zu, das seinerzeit vielleicht der Markt noch nicht bereit bzw. die technischen Möglichkeiten nicht hinreichend waren. Vielleicht sind manchmal heutzutage aber auch die Marketing-Abteilungen gewitzter…

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